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Mitten in Essen steht ein Palast. Auf sieben Stockwerken schieben sich Gänge in Kurven, werden Räume zu Sälen, sammeln sich Kunstwerke und Menschen. Sie kommen zum Schauen und Wandeln, manche essen und schlafen auch hier. Sie mischen sich unter die, die schon da und am Machen und Schaffen sind. Sie halten Gesicht und Hände in die Sonne, lassen den Wind durch, er fliegt durch die Flure. Die etlichen Etagen werden dabei zu einem einzigen Gang, der in Schlaufen und Höhen windet. Am Anfang ist ein Drehkreuz, wie im Vergnügungspark, der Zugang zum Unperfekthaus.


An der balkonierten Außenfassade startet eine Kugelbahn aus bunten Kunststoffröhren. Wie die Kugel außen muss man auch innen den einen oder anderen Looping machen, um einmal alle Stockwerke zu passieren. Anders als die kleine Kugel kann man selbst jedoch dafür ein paar Stunden brauchen. Vielleicht auch Tage.

“Das Unperfekthaus ist eine soziale Erfindung. Der Gründer Reinhard Wiesemann ist Erfinder”, erzählt Till. Als Kind war Till selbst immer zum Basteln und Spielen hier, jetzt kümmert er sich als Betriebsleiter um das Hauses. “Das Unperfekthaus übernimmt eine Aufgabe, die eine Kommune nicht mehr alleine stemmen kann”, leitet er ein. Obwohl sich viel im Kulturbereich des Ruhrgebiets einiges tue, habe das Ruhrgebiet aufgrund des Strukturwandels mit hohen Kosten zu kämpfen. Letztlich würden alle Kommunen an der Grenze zum Nothaushalt stehen. “Die letzte Zeche hat gefühlt 2018 geschlossen”, sagt Till. Damit sind Stammtisch-Räume und Kulturpunkte weggefallen. Öffentliche Förderungen und ein zentralisierter Kulturgedanke - das wäre im Moment vor allem privatwirtschaftlich stemmbar. Sie könnten die finanzielle Sicherheit geben, um Pioniergedanken zu verwirklichen. Deshalb sollte es gerade aus diesem Bereich Initiativen geben, die Barrieren für künstlerische Förderung niedrig halten.

“Eigentlich bieten wir erstmal nur eines: Einen halbwegs ruhigen, warmen und trockenen Platz. Wie der dann gefüllt wird, ist den Leuten freigestellt", berichtet er. Auf den meisten Tischen stehen Pinsel, Farben und Sägen zu Leinwänden, Stoffen und Holz. Verschiedenste Künstler:innen arbeiten zu jeder Stunde an ihren Dingen. Die Prämisse: Wenig Miete, immer offen. Bis auf spezielle, geschützte Räume, sind im Unperfekthaus alle Türen herausgenommen. Die Ateliers stehen deshalb offen im Raum, die Arbeit der Schaffenden wird damit für alle sichtbar, hörbar, erlebbar.

Für das Unperfekthaus ist es dabei wichtig, keine vorgegebenen Maßstäbe an die Qualität dessen, was die Menschen machen, zu setzen. “Unsere Kriterien sind Respekt, Offenheit und Zugänglichkeit”, beschreibt Till. So kommen hier Hobby-Bastler:innen, Programmierende und professionelle Kunstschaffende zusammen.

Tanja ist seit 2010 im Haus. Sie hat in der ehemaligen Kinderkulturwerkstatt angefangen, in der auch Till früher gebastelt hat. Jetzt hat sie schon länger einen Tisch im Keller, an dem sie jeden Tag kleine Holzbasteleien sägt. Ihr gegenüber verstecken sich Licht uns Skulpturen hinter schwarzen Vorhängen. Erst wenn man sie durchschreitet, taucht man in die Kunstinstallation der Künstlerin Koromi Mose, die auf der anderen Seite des Kellers arbeitet. Sie ist gerade mal neunzehn Jahre alt, geht noch zur Schule. Der Platz neben Tanja wird von Florian benutzt, er arbeitet vor allem mit Kalligraphie. “Neulich hat er begonnen, die Kellerwände zu bemalen. Da will ich demnächst mitmachen”, erzählt sie. Im Moment ist Florian gar nicht unten. Oben im Theatersaal sind Proben eines partizipativen und kollektiven Theaterprojekts. “Man lernt hier einfach nebenbei Leute kennen und dann hat man plötzlich eine Idee und jetzt machen wir ein Theaterstück zusammen - obwohl ich vorher nie gespielt habe!", Florian formt seine Hände um sich wie Strahlen. Die Gruppe probiert gerade verschiedene Rollen auf der Bühne aus, die Charaktere werden aus der Improvisation geschaffen. Sie lacht so viel wie sie spielt. Jemand spielt nebenan Klavier.

Nicht alle hier Schaffenden haben ein eigenes Atelier. Wer ohne festen Platz was macht, kann ein Schild aufstellen. Auf Gorat’s Schild steht: “Ich bin Autor und schreibe gerade an einem Buch. Sprich mich an!” Seine Romane schwirren zwischen Realität und Fantasy, irgendwie auch Science Fiction, aber eigentlich auch anders. Wie viele andere kommt er regelmäßig einfach so, sucht sich ein Plätzchen in den Schreibräumen oder auf der Terrasse. Ihn interessiert hier vor allem die Unterschiedlichkeit der Menschen und Veranstaltungen. “Letztens kam ich in einen Raum, da war gerade ein Stammtisch, wo Fetisch-Kostüme gebaut wurden. In das darauffolgende Gespräch wäre ich sonst wohl nicht gekommen”, berichtet er.


Während Gorat oben schreibt, wandert Clarisse im ersten Stock durch ihre mobile Ausstellung. Sie ist Künstlerin und Aktivistin aus der Volksgruppe der Tsio im Kongo. Unten, für alle zugänglich, hat sie einen Altar gebaut, lila leuchtend, in dem sie ihre Skulpturen aufgestellt hat. “Eigentlich sind das nur für Europäer Skulpturen. Sie sagen Skulpturen, weil damit kann man Business machen. Doch in echt sind es Götterfiguren, eigentlich sogar Gottheiten selbst. Wenn man an den Altar tritt, spürt man ihre Energie”, sagt sie. Sie ist die ganze Woche hier, klärt mit ihrem Vortrag “Picasso klaut in Afrika” über den Raub solcher Gottheiten auf. “Ich mache das, weil die Museen das nicht machen. Und hier können es alle sehen.”

Diese Gleichzeitigkeit, mit der das alles im Haus passiert, verdeutlicht die Möglichkeiten, die entstehen, wenn Zugänge geschaffen werden. Solch ein Ort wird dabei zu einem Körper der kreativen Vielfalt. Und wenn die Facetten des Schaffens aufleuchten, können sie für alle erlebbar werden.